Geahnt haben es die Menschen immer – der Sitz der Gefühle liegt im Zentrum des Körpers. Dort wo Aufregung und Liebe „Schmetterlinge flattern“ lässt und Freude und Glück leise kribbeln. Wo Ärger einen Kloß erzeugt, Anspannungen „auf den Darm drücken“ und Ekel sich bis zum Erbrechen steigert. „Höre auf Deinen Bauch“ heißt es in Kursen für erfolgreiche Manager und Börsenmakler; Entscheidungen „aus dem Bauch heraus“ optimieren.
Und nun gibt die Wissenschaft ihnen allen Recht. Der Grund dafür, sagt der amerikanische Neurowissenschaftler Michael Gershon (Chef des Departements für Anatomie und Zellbiologie der Columbia University in New York), so unpassend das klingen mag: „da ist ein Gehirn in unserem Bauch!“.
Unser Darm ist umhüllt von mehr als 100 Millionen Nervenzellen; dies sind mehr Neurone als im Rückenmark. Dieses „zweite Gehirn“, so haben Neurowissenschaftler herausgefunden, ist quasi ein Abbild des Kopfhirns – Zelltypen, Wirkstoffe und Rezeptoren sind exakt identisch. Die größte Ansammlung von Nervenzellen außerhalb des Kopfes erledigt noch viel mehr als die an sich schon hochkomplexe Verdauungsleistung. Es ist auch eine Quelle psychoaktiver Substanzen, die mit Gemüts- und Stimmungslagen in Verbindung stehen, wie Serotonin, Dopamin und Opiaten.
„Wir stehen am Anfang einer Revolution“ sagt Michael Gershon, denn neueste Forschungen zeigen, dass psychische Prozesse und das Verdauungssystem weitaus inniger gekoppelt sind, als wie man bisher gedacht hat. Der menschliche Verdauungsprozess bildet täglich neun Liter Sekret (Speichel, Magen-, Dünndarm-, Bauchspeicheldrüsen- und Gallensaft), welches den Dünndarm passiert und im Dickdarm über molekulare Pumpen dem Organismus zurückgeführt wird. Am Ende verlassen den Anus mit dem Stuhl nur sehr geringe Mengen Flüssigkeit – eine biochemische Meisterleistung. Im Laufe eines 75-jährigen Lebens wandern mehr als 30 Tonnen Nahrung und 50.000 Liter Flüssigkeit durch dieses Röhrensystem. „Das Herz ist dagegen eine primitive Pumpe“ erklärt Gershom. Das Bauchhirn steuere den Durchlauf „hochintelligent“: Millionen von chemischen Substanzen müssen während des Verdauungsprozesses analysiert, Millionen von Giften und Gefahren gemeistert werden. Und das über die größte Kontaktfläche mit der Außenwelt: „Wir sind innerlich ja hohl“ sagt der New Yorker Forscher, denn der Körper endet nach draußen nicht nur an der Haut, sondern auch an der Wand des Darms.
Das Darmhirn fühlt
Verborgen in der Darmwand liegen zwei hauchdünne Schichten eines komplexen Nervensystems und umhüllen den Verdauungstrakt wie Netzstrümpfe. Interessanterweise verlaufen 90% der Verbindungen zwischen Bauch und Kopf von unten nach oben! Es herrscht eine reine Informationsflut aus dem Darmhirn. Experimente deuten darauf hin, dass außer bewussten Alarmsignalen – etwa Brechreiz bei Vergiftungen – vor allem unbewusste Botschaften in die Zentrale im Kopf eingespeist werden. Je tiefer Prozesse im Verdauungstrakt ablaufen, umso schwächer wird die Herrschaft des Kopfhirns. Mund, Speiseröhre und Magen lassen sich temporär noch „von oben“ beeinflussen. Aber spätestens ab dem Magenausgang übernimmt das Bauchhirn die Regie. Erst am Ende, am Rektum und Anus, nimmt das Kopfhirn mit bewusster Steuerung wieder Einfluss.
Das Denkorgan im Bauch ist ein unabhängiger Geist im Körper. Ein vibrierendes, modernes, Daten verarbeitendes Zentrum. Vor allem deshalb ist es bis heute ein äußerst schwieriges Unterfangen, Gedärme zu transplantieren: die große Anzahl von fremden Nerven- und Immunzellen, die mit dem Spenderorgan übertragen werden, ordnen sich dem Empfänger-Organismus besonders schwer unter. Aus diesem Grund befürchten Mediziner neben den gravierenden Abstoßungsreaktionen auch schwere psychische Irritationen. Denn das Darmhirn hat Macht: es kann die Daten seiner Sensoren selbständig erfassen und verarbeiten und es kontrolliert ein Set von Reaktionen! Es gibt den Nachbarorganen Anweisungen, koordiniert die Infektabwehr und die Muskelbewegungen, arbeitet organisiert und mit Kreisläufen. Und es ist in der Lage, unterschiedliche Zustände zu registrieren und adäquat darauf zu reagieren. Das zweite Gehirn hat alles, was ein integratives Nervensystem braucht – das Darmhirn denkt!
Eine gigantische Chemie-Fabrik: der Nervenbotenstoff Serotonin – das Glückshormon welches die Gemütslage beeinflusst – wird zu 95% in den Zellen der Darmwand synthetisiert und gelagert. Insgesamt werden mindestens 40 Nervenbotenstoffe produziert und exakt reguliert. Diese Moleküle sind wie Worte in einer komplizierten Sprache der Nervenzellen; und sie sprechen mit uns. Was dem Hirn geschieht bleibt dem Bauch nicht verborgen und umgekehrt. Bei einigen degenerativen Erkrankungen des Gehirns wie Creutzfeld-Jakob, Alzheimer und Parkinson, findet sich der gleiche Typ von Zellschäden sowohl im Kopf- wie im Bauchhirn. Hier sehen Forscher eine Möglichkeit zur besseren Frühdiagnostik.
Die Volkskrankheit „Reizdarm-Syndrom“ (Colon irritabile) stellt die Mediziner vor ein Rätsel: starkes Unwohlsein, Blähungen, Bauchschmerzen und Unregelmäßigkeiten beim Stuhlgang (von Verstopfung bis Durchfall). 20% der Bevölkerung sind davon betroffen und verursachen somit Kosten in Milliardenhöhe. Das Verdauungssystem der Betroffenen funktioniert nicht richtig, aber es sind keine krankmachender Befunde diagnostizierbar; alle Untersuchungen sind ohne pathologischen Befund. Deshalb werden Reizdarm Betroffene leider oft als hypochondrische Spinner abgetan. Dabei beruhen solche Erkrankungen auf einer neuronalen Fehlfunktion und mehr als 50 verschiedene Erkrankungen werden inzwischen mit solchen Fehlschaltungen in Verbindung gebracht. Das Bauchhirn entwickelt seine eigenen „Neurosen“.
Die effektivste Verteidigungslinie
Der Darm: das größte Immunorgan im Körper, in dem mehr als 70% aller Abwehrzellen sitzen. Gefährliche Erreger werden durch die effektivste Verteidigungslinie – die Darmwände – fern gehalten und ausgeschleust: rund die Hälfte des Kots besteht aus Bakterien, Viren und Pilzen. Eine große Anzahl von Abwehrzellen steht in direkter Verbindung zum Bauchhirn und sie lernen zwischen gut und böse zu unterscheiden. Diese Information wird gespeichert und bei Bedarf abgerufen. Vieles läuft völlig unabhängig vom Kopf ab. Gelangen allerdings Gifte in den Körper, „fühlt“ das Darmhirn die Gefahr und schickt sofort Alarmsignale ins Oberstübchen. Denn in Notsituationen soll das Gehirn im Schädel bereit sein, der Mensch sich seines Bauches bewusst werden und sich nach Plan verhalten – Erbrechen, Krämpfe, Entleerung.
Negative Gefühle hinterlassen ihre Spuren
Notsituationen wie Schmerz oder Ängste fühlen Menschen auch in der Leibesmitte; wenn die Zentrale im Kopf bewusst oder unbewusst die Last von Anspannung und Furcht wahrnimmt, dann informiert sie spezialisierte Immunzellen im Darm. Diese schütten Entzündungsstoffe wie Histamin aus, welche die Nervenzellen im Verdauungstrakt sensibilisieren und aktivieren; die Folge sind Muskelkontraktionen, welche Krämpfe und/oder Durchfall induzieren. Der Kreislauf verselbständigt sich und der fortwährende Beschuss mit Entzündungssubstanzen und Stresshormonen kann sogar zu Zellzerstörungen im Gehirn führen. Die „Endstation“ ist eine messbare Abnahme des limbischen Systems und des Frontalhirns – ein Phänomen, welches auch bei depressiven Menschen nachzuweisen ist. Versuche an Ratten belegen, dass Stress-Situationen bei Neugeborenen eine Hypersensitivität der Tiere aktivieren, welche sich in Symptomen ähnlich dem Reizdarmsyndrom zeigen. Und das stärkste Indiz für die verhängnisvolle Reaktionskette zwischen Darm und Psyche: 40% der Patienten mit Colon irritabile leiden, wie neueste Studien zeigen, an Angsterkrankungen und Depressionen.
Alle Ergebnisse deuten in die Richtung, dass im Darmhirn „die Essenz der Depression verborgen liegt“ und im Bauch „Stimmungen generiert werden“. Immer wenn der Darm kontrahiert, wenn er Serotonin oder andere Nervenbotenstoffe ausstößt, wenn er Immunzellen zur Arbeit bewegt, werden Daten über das Nervensystem nach oben geleitet. So entstehen Unwohlsein oder Heiterkeit, Müdigkeit oder Vitalität, schlechte oder gute Laune. Der Bauch macht die Stimmung!